Versuch zur Lösung des Kausalitätsproblems unter Einbeziehung des objektiven Zufalls
Peter M. Kaiser
Im allgemeinen glaubt man, daß Naturwissenschaftler exakte Aussagen machen; dabei wird nicht berücksichtigt, daß die Ableitung von Gesetzen und Theoriebildung bei naturwissenschaftlichen Vorgängen und Objekten nicht viel anders verläuft als in den Gesellschaftswissenschaften, nur sind die empirischen Befunde tatsächlich von exakterer Natur, d.h. die Streuung der Rohdaten ist erheblich geringer. Jedoch sagen Rohdaten zunächst einmal nichts aus, jedenfalls nicht von selbst. Denn auch Daten, die in den Naturwissenschaften erhoben werden, müssen interpretiert werden. Sie sind sogar beim Entwurf von Experimenten, in den Arbeitshypothesen von den herrschenden Theorien, Ideen und sonstigen Vorstellungen (wir könnten auch sagen: allen möglichen Ideologien) in mehr oder weniger starkem Maße beeinflußt. Man kann es kaum glauben, aber das ist in den Naturwissenschaften genauso der Fall wie in allen anderen Einzelwissenschaften.
Trotzdem denken wir (als Laien), wir würden von berufenen Naturwissenschaftlern regelmäßig aufgeklärt, und zwar nicht nur über die neuesten Ergebnisse der Naturwissenschaften, sondern auch über ihre philosophischen, wenn nicht gar weitreichenderen, gesellschaftlichen Konsequenzen. Schauen wir uns jedoch die popularwissenschaftlichen Werke der vergangenen Jahrzehnte einmal genauer an, so kommen wir zu einem ganz anderen Ergebnis, auch wenn solche Werke das eine oder andere Mal von Nobelpreisträgern geschrieben wurden.
Ganz verheerende Folgen haben der deutsche Faschismus und der bereits in den letzten beiden Kriegsjahren sich anbahnende „Kalte Krieg“ insofern gehabt, als die Perzeption der Hegelschen Philosophie, ganz zu schweigen von marxistischer Theorie, im zweiten Fall glatt verboten, im ersten Fall jedoch offiziell mindestens geächtet wurde. Soweit ich weiß, ist über diese verheerenden Folgen noch nicht ausreichend geforscht worden, insbesondere nicht der Einfluß auf Naturwissenschaftler und ihre Theorien.
Was ist nun in einigen Bereichen der Naturwissenschaften seit Anfang des 20. Jahrhunderts geschehen? Dazu habe ich mir drei relativ wichtige Gebiete aus der Physik herausgesucht, und zwar a) die Welle-Teilchenproblematik, b) die Rolle von Gedankenexperimenten wie „Schrödingers Katze“ und c) die irreführende Verwechslung von Kausalität und Determinismus.
Vorweg soll gleich noch angemerkt werden, dass es grundsätzlich falsch ist, wenn Theorien und noch weniger einzelne Gesetze, aus einem untersuchten Gegenstandsbereich, auch innerhalb einer Disziplin wie z.B. der Physik oder der Chemie, auf einen Bereich einer anderen, womöglich komplexeren Ebene transferiert werden, auf denen empirisch ganz andere Gesetze abgeleitet werden und gelten müssten. Der Quantenchemiker Hans Primas warnt vor solchen allenthalben anzutreffenden Reduktionismen, die allein schon innerhalb der Chemischen Theorie anzutreffen sind.[1]
Noch schlimmer wird es mit der Übertragung zwischen den Disziplinen, z.B. Chemie auf Physik zurückzuführen und am allerschlimmsten von den Naturwissenschaften auf die Gesellschaftswissenschaften. Hier wäre das komplette Scheitern des Konzeptes „Artificial Intellligence“ zu nennen, was eine eigene Untersuchung erfordern würde.
a) Welle-Teilchen Problem
Diese Problematik, ja geradezu Krise der Physik, entstand spätestens 1905, als Einstein die These aufstellte, der photoelektrische Effekt bedeute, dass das Licht in gequantelten Einheiten aufgetreten sein muß und nicht als elektromagnetische Welle.[2] Im ganzen 19. Jahrhundert hatte man Licht allein Wellencharakter zugesprochen. Albert Einstein (1897-1955) wurde 1921 für diese Arbeit, nicht für die Relativitätstheorie, mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet. Der lichtelektrische Effekt wurde schon 1839 von Alexandre Edmond Becquerel (1820-1891) erstmals beobachtet. Im Jahre 1886 wurde dieser Effekt von Heinrich Hertz (1857-1894) und seinem Assistenten Wilhelm Hallwachs (1859-1922), einem Vorfahren meines Stiefvaters, systematisch untersucht (1887 Hallwachseffekt). Bestimmte Metalloberflächen geben im negativ aufgeladenen Zustand im Vakuum Elektronen ab, wenn ihre Oberfläche mit kurzwelligem Licht (z.B. UV) bestrahlt wird. Die kinetische Energie der freiwerdenden Elektronen hängt von der Frequenz (und damit von der Farbe) des Lichtes ab, aber nicht von dessen Intensität. Dies stand im Gegensatz zur Vorstellung von Licht als Wellenerscheinung, da in der klassischen Physik die Energie einer Welle von deren Amplitude und nicht von der Frequenz abhängt.
Louis de Broglie (1892-1987) schlug 1924 dann vor, auch Elektronen und anderen massebehafteten Teilchen Wellencharakter zuzuschreiben, was einer vollkommenen Symmetrie zwischen Strahlung und Materie entspricht. Auf de Broglies Hypothese aufbauend entwickelte der österreichische Nobelpreisträger für Physik Erwin Schrödinger (1887-1961) im Jahr 1926 eine eigentliche Quantenmechanik. Jedes Teilchen wird dabei durch eine Wellenfunktion beschrieben und die Schrödingergleichung bestimmt, wie sich die Wellenfunktion räumlich und zeitlich entwickelt. Die Wellenfunktion wird auch als Wahrscheinlichkeitsverteilung gedeutet. Demnach kreisen die Elektronen nicht auf wohldefinierten Bahnen um den Atomkern herum (wie im Bohrschen Atommodell), sondern sind in einer Art Wahrscheinlichkeitswolke zu finden. Die Wahrscheinlichkeitsnatur der Quantenmechanik hat nichts mit Messfehlern oder ungenauen Apparaturen zu tun, sondern sie ist integraler Bestandteil der Theorie.
Der damit geschaffene scheinbare Widerspruch wurde unglücklicherweise weiter Welle-Teilchen-Dualismus genannt; dies ist deshalb unglücklich, weil ein Dualismus einen nicht auflösbaren Widerspruch bedeutet. Der Widerspruch musste aber gelöst werden, weil man sonst keine Theorie entwickeln kann. Offensichtlich hatte keiner der Physiker Hegel gelesen und daher auch keine Vorstellung von einem dialektischen Widerspruch.
Um in diesem Zusammenhang den Begriff Dialektik nicht zu bemühen bzw. in Unkenntnis dessen, hat Niels Bohr (1885-1962) den Begriff „Komplementarität“ vorgeschlagen („contraria sunt complementa“). Demnach sollen die zwei widersprüchlichen Eigenschaften von Licht oder Elementarteilchen dadurch verbunden sein, dass sie sich gegenseitig ergänzen und beide relativ wahr sind. Obwohl dies bestens mit der dialektisch-materialistischen Auffassung übereinstimmt, wird an diesem Begriff der Komplementarität als eines originär (und vielleicht sogar originell) naturwissenschaftlichen Terms mit zäher Verbissenheit festgehalten. Diese ist wohl nur mit der Angst davor zu erklären, sich aufgrund der ideologischen und politischen Implikationen, die die Hegelsche Dialektik und noch mehr die von Engels und Marx scheinbar erzwingen, sich eindeutig auf eine bestimmte Weltanschauung einzulassen. Dies wird auch der Hauptgrund dafür sein, dass die Distanzierungen von der dialektisch-materialistischen Methodik bei vielen Naturwissenschaftlern teilweise groteske Züge annehmen. So erwähnt z.B. einer der Nobelpreisträger für Chemie von 1967, Manfred Eigen (* 1927), in seinem vielzitierten Buch „Das Spiel“ (zusammen mit seiner damaligen Assistentin Ruthild Winkler) als einzigen Kronzeugen der marxistischen Theorie den heute völlig unbekannten Max Raphael (1889-1952), einen Architekten und Künstler, der sich während der Weimarer Republik an einer marxistischen Theorie der Ästhetik versucht hatte. Raphael gilt in der angelsächsischen Literatur als Humanist und als Person „somewhat mystical“. Von der „Dialektik der Materie“ und der angeblich damit verbundenen „objektiven Erkenntnis“ halten Eigen/Winkler gar nichts, da diese die Grundlage einer „gesellschaftlichen Unabwendbarkeitslehre“ darstellten. [3]
b) Schrödingers Katze oder die Verwechslung von Theorie und Realität
Erwin Schrödinger erwähnte in einer Veröffentlichung über die Wellengleichungen der Quantenmechanik aus dem Jahr 1935, für die er 1933 den Nobelpreis erhalten hatte, ein Gedankenexperiment, mit dem er zeigen wollte, dass die quantenmechanische Beschreibung von Zuständen mittels überlagerter Wellengleichungen bei „verschränkten Teilchen“ dann vollkommen inadäquat wird, wenn es sich um makroskopische ‚Gegenstände’, z.B. einen lebenden, z.B. eine Katze, handelt. Die inzwischen zahlreich experimentell untersuchten Teilchenzustände [4], die Einstein noch als ‚spukhafte Fernwirkung’ beschrieben hatte, weil er nicht daran glauben wollte, bestehen in folgendem: es werden z.B. in einem nicht-linearen optischen Kristall mittels Laserlicht ein verschränktes Photonenpaar erzeugt und dann die Photonen durch geeignete, aber aufwendige Maßnahmen räumlich voneinander getrennt. Dieses System von Photonen nennt man ‚verschränkt’, es kann keine Wellengleichung für das eine oder andere Photon und daher auch nicht die Polarisation der Welle angegeben werden. Erst wenn die Polarisation des einen Photons gemessen wird, wird dieses vollkommen zufällig (50:50) in eine der beiden Ebenen ‚kippen’ und das andere zeigt das dazu senkrecht stehende Resultat. Geradezu sensationslüstern wurde und wird immer wieder spekuliert, dass dies eine ‚Informationsübertragung’ mit mehr als Lichtgeschwindigkeit bedeute, was möglicherweise ‚Teleportation’ ermögliche. Außerdem sollte das objektiv zufällige Ergebnis der Messung auch noch das Kausalitätsprinzip verletzen. Dem ist allerdings nicht so: weder kann etwas ‚transportiert’ werden, noch ist das Kausalitätsprinzip verletzt, denn es handelt sich ja gerade um einen Zufallseffekt. Die Korrelation der beiden Photonen besteht von ihrer Entstehung an, und da nichts schneller als mit Lichtgeschwindigkeit ‚übertragen’ werden kann, ist auch das Kausalitätsprinzip gewahrt, abgesehen davon, daß einzelne Photonen sowieso keine Information tragen können, denn dazu müßten sie eine Welle bilden und das kann nur ein Kollektiv von Teilchen. [5]
Interessant sind verschränkte Teilchen, weil man damit hofft, sogenannte Quantencomputer bauen zu können, die extrem viel größere „Informationspakete“ zur gleichen Zeit verarbeiten können, wobei sie auch noch vollkommen verschlüsselt übertragen werden. Z.Z. wird vom BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) eine Menge Geld für die Entwicklung von Quantencomputern ausgegeben, die mit QuBits arbeiten. [6] Die meisten Naturwissenschaftler verschweigen dabei gegenüber der Öffentlichkeit, daß es technisch unglaublich aufwendig ist, verschränkte Zustände herzustellen. Diese sind nämlich nur im Hochvakuum und bei tiefen Temperaturen nahe am absoluten Nullpunkt so lange beständig, bis sie durch Berührung mit irgendwelcher Materie wieder zerfallen und dann nichts mehr nützen. Bisher sind Zeiten von einigen zig-Nanosekunden (Milliardstel Sekunden) bis zu 17 Mikrosekunden erreicht worden, mehr nicht. [7] Für eine praktische Anwendung, z.B. in einem Quantencomputer, an dem heftig gearbeitet wird, müssen daher verschränkte Zustände mindestens so lange aufrechterhalten werden können, bis die Rechenoperationen zu Ende sind.
Schrödinger wollte aber eigentlich nur illustrieren, daß die Verschränkung bei ‚lebenden Systemen’ gerade nicht funktioniert; er hatte geschrieben: „Man kann auch ganz burleske Fälle konstruieren. Eine Katze wird in eine Stahlkammer gesperrt, zusammen mit folgender Höllenmaschine (die man gegen den direkten Zugriff der Katze sichern muß): in einem Geigerschen Zählrohr befindet sich eine winzige Menge radioaktiver Substanz, so wenig, daß im Laufe einer Stunde vielleicht eines von den Atomen zerfällt, ebenso wahrscheinlich aber auch keines; geschieht es, so spricht das Zählrohr an und betätigt über ein Relais ein Hämmerchen, das ein Kölbchen mit Blausäure zertrümmert.
Hat man dieses ganze System eine Stunde lang sich selbst überlassen, so wird man sich sagen, daß die Katze noch lebt, wenn inzwischen kein Atom zerfallen ist. Der erste Atomzerfall würde sie vergiftet haben. Die Psi-Funktion des ganzen Systems würde das so zum Ausdruck bringen, daß in ihr die lebende und die tote Katze (s. v. v.) zu gleichen Teilen gemischt oder verschmiert sind. Das Typische an solchen Fällen ist, daß eine ursprünglich auf den Atombereich beschränkte Unbestimmtheit sich in grobsinnliche Unbestimmtheit umsetzt, die sich dann durch direkte Beobachtung entscheiden läßt. Das hindert uns, in so naiver Weise ein ‚verwaschenes Modell‘ als Abbild der Wirklichkeit gelten zu lassen…“. [8]
Gerade der letzte Satz dieses Zitates sollte darauf hinweisen, dass Schrödinger tatsächlich demonstrieren wollte, dass eine Katze eben nicht durch eine Wellenfunktion dargestellt werden kann, geschweige denn eine Wellenfunktion ist; vielmehr ist die Schlußfolgerung diejenige, dass für makroskopische Objekte andere Gesetze gelten, also auch eine andere Theorie, da Lebewesen grundsätzlich einem anderen Gegenstandsbereich angehören als Elementarteilchen. Man kann es kaum glauben, dass die arme Katze bei unzähligen Autoren für die absonderliche These herhalten muß, man könne die Wirklichkeit nur durch „direkte Beobachtung“ erkennen, indem erst dann der Zustand des Objektes verwirklicht wird. Einige Physiker, die das Gedankenexperiment sowie die entsprechende Mathematik, die Wellengleichungen, mit einer realen Situation verwechseln, schlagen folgende Lösung des Dilemmas vor: zusätzlich zur „Kopenhagener Deutung“ verschränkter Zustände (der Beobachter entscheidet durch seine Messung, in welchen ‚Zustand’ das vorher abgeschlossene System kippt), wurde eine zweite „Deutung“ entwickelt, die der Dekohärenz. [9] Das System befinde sich zunächst in einem kohärenten Überlagerungszustand. Ein ‚gemessenes’ System hat diese Fähigkeit verloren – nach der Kopenhagener Deutung ist der ‚Kollaps der Wellenfunktion’ die Ursache dafür, aber eigentlich ist es die nicht zu vermeidende Wechselwirkung mit der Umgebung. Die Dekohärenz beschreibt im Prinzip nichts anderes als den Übergang des kohärenten Überlagerungszustandes in einen ‚messbaren’, nicht interferenzfähigen Zustand. Die quantenmechanischen Überlagerungszustände kollabieren aber nun nicht plötzlich durch eine Beobachtung bzw. Messung, sondern kontinuierlich durch Wechselwirkungen mit der Umwelt. [10]
Grundlage dieser Auffassung ist, dass man das mikroskopische Objekt plus Messapparatur nicht als abgeschlossenes (isoliertes), sondern als offenes System betrachten muss. Die Messapparatur ist ein makroskopisches System, welches mit der Umgebung (Luft, einfallendes Licht etc.) in vielfältiger Wechselwirkung steht. Daher muss in der Beschreibung des Systems vor und nach der Messung auch die Umgebung berücksichtigt werden, die z.T. ebenfalls quantenmechanischen Gesetzen gehorcht. Das Teilsystem aus Objekt und Messapparatur kann nicht isoliert beschrieben werden, es steht in ständiger Wechselwirkung mit der Umgebung. Für Quantenobjekte kann dieser Prozeß angeblich eine Weile dauern, so dass die Superposition solange ‚am Leben erhalten’ bleibt, für makroskopische Systeme dagegen nur unmessbar kurz. Dazu komme, dass bei lebenden Systemen das Objekt selbst im Austausch mit seiner Umwelt ist (die Katze atmet und verbraucht Sauerstoff, etc.).
Und nun kommt die aberwitzige Schlussfolgerung, weil wie unter Zwang die quantentheoretische und daher reduktionistische Beschreibung eines lebenden Systems (die Katze) einfach nicht aufgegeben werden will: „Deshalb kollabiert die Superposition aus lebender und toter Katze blitzschnell, und die Katze ist entweder tot oder lebendig. Wir hoffen sicher alle, dass sie lebt.“ [11]
Stephen Hawking soll gesagt haben: „Wenn ich jemanden von Schrödingers Katze sprechen höre, greife ich nach meinem Gewehr.“ [12]
c) Kausalität, Zufall und Determinismus
Im Zusammenhang mit den vorangegangenen Abschnitten a) und b) standen die an der Entwicklung der Quantentheorie bzw. Quantenmechanik beteiligten Physiker (Niels Bohr, Max Planck, Erwin Schrödinger, Werner Heisenberg, Max Born, Paul Dirac, Wolfgang Pauli, Satyendranath Bose u.a.) vor dem großen Problem der (Neu)Deutung alter Kategorienpaare wie Zufall und Notwendigkeit, Determinismus oder Indeterminismus, Kausalität oder ‚Akausalität’ sowie dies alles in Zusammenhang mit einem wissenschaftlichen Gesetzesbegriff. Alle diese Kategorien erschienen nun, nach der Entdeckung exotischen Verhaltens von exotischen Teilchen (oder eben Wellen) sowie der mathematischen Entwicklung entsprechender neuer Theorien, in einem anderen Licht.
Das bis dahin vorherrschende, physikalische Weltbild geriet gehörig ins Wanken. Insbesondere die Anerkennung des objektiven Zufalls bereitete Physikern wie z.B. Einstein große ideologische Probleme. Es wollte ihm nicht einleuchten, dass das Aussenden eines Elektrons beim photoelektrischen Effekt insofern zufällig geschieht, als man den exakten Zeitpunkt nicht vorhersagen kann, zu dem dies geschieht und welches Elektron das erste sein würde, was die Metallplatte verläßt. Einstein befürchtete, dass dies das Elektron selbst entscheiden könnte und dies behagte ihm nicht. In einem Brief an Niels Bohr schrieb er im Dezember 1926, er lehne die Willkürlichkeit von Zufällen ab und meinte: „Die Quantenmechanik ist sehr Achtung gebietend. Aber eine innere Stimme sagt mir, daß das noch nicht der wahre Jakob ist. Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten bringt sie uns kaum näher. Jedenfalls bin ich überzeugt, daß der Alte nicht würfelt.“ [13] Daraufhin schrieb Bohr zurück: „Einstein, schreiben Sie Gott nicht vor, was er zu tun hat.“ Außerdem soll Einstein gesagt haben: „Es scheint hart, dem Herrgott in die Karten zu gucken. Aber daß er würfelt und sich telepathischer Mittel bedient (wie es ihm von der gegenwärtigen Quantentheorie zugemutet wird), kann ich keinen Augenblick glauben.“ [14]
Einstein hätte diese Befürchtungen nicht haben müssen, denn ‚Zufall’ bedeutet eben nicht ‚Willkürlichkeit’, und ‚verschränkte Quantenzustände’ von Elementarteilchen, die Einstein noch ‚spukhafte Fernwirkung’ nannte, lassen keinen Schluß auf telepathische bzw. telekinetische Wirkungen zu. Auch hat ein Elektron kein Bewußtsein und kann sich nicht entscheiden. Trotzdem meinte Einstein: „Der Gedanke, daß ein einem Strahl ausgesetztes Elektron aus freiem Entschluß den Augenblick und die Richtung wählt, in der es fortspringen will, ist mir unerträglich.“ Da könne er gleich „Angestellter in einer Spielbank“ werden. [15]
Objektiven Zufall kann man so definieren: Ein Ereignis heißt zufällig, wenn es nicht mit Notwendigkeit aus einer gegebenen Gesamtheit von Bedingungen folgt, sondern wenn in einem Möglichkeitsfeld nur eine der Möglichkeiten verwirklicht wird; es ist jedoch nicht vorhersehbar, welche. Daraus wurde und wird noch immer fälschlich geschlossen, dies sei demnach ein ‚akausaler’ Prozeß, wo es aber lediglich ein nicht exakt determinierbarer Prozeß ist. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Kausalität und Determiniertheit in dieser Weise verknüpft sein müssen. Sollte es wirklich ‚akausale’ Vorgänge geben, wäre dies ein Offenbarungseid für jegliche Erkenntnis. Es gäbe dann materielle Vorgänge oder Dinge, die aus dem Nichts auftauchen und mit anderen nicht zusammenhängen; dies wäre eine Verletzung der Vorstellung einer einheitlichen, materiellen Welt [16], ohne die es aber nicht nur keine Naturwissenschaft gäbe, sondern auch keine Industrie. [17] Gerade Zufälle hängen ja durchaus mit anderen Reaktionen/Ereignissen zusammen, sonst würden sie gar nichts bewirken; manchmal entstehen durch Zufall ganz kolossale Effekte.
Damit ist die Bedingung für Kausalität erfüllt, nämlich dass Reaktionen zusammenhängen und dass nichts aus dem Nichts entsteht. Mehr kann und sollte ein Kausalitätsprinzip nicht aussagen. Damit haben wir definiert, dass es sich bei der Kausalität um ein Prinzip, und zwar ein heuristisches Prinzip handelt, wie Max Planck sehr zutreffend bemerkte. [18]
Sehr häufig ist in der Literatur, auch in der physikalischen Fachliteratur, von einem ominösen ‚Kausalgesetz’ die Rede; ganze Bücher sind über diesen – falschen – Begriff verfasst worden, selten allerdings so lesenswert wie das des 1938 in die USA emigrierten Physikers Philipp Frank, der bei Boltzmann in Wien promoviert hatte. [19] Es handelt sich jedoch nicht um ein Gesetz. Ein wissenschaftliches Gesetz als Bestandteil von wissenschaftlichen Theorien, sowohl in den Natur- als auch in den Gesellschaftswissenschaften, kann man kurz so definieren: ein Gesetz beschreibt Zustände und deren Änderungen eines natürlichen (physikalischen, biologischen etc.) oder auch eines gesellschaftlichen Systems mittels messbarer, eindeutig definierter Größen (Parameter, Variablen).
Im Detail gilt weiter folgendes:
1) im Gegensatz zu Regeln lässt ein Gesetz keine Ausnahme zu. In erster Näherung kann man daher sagen, Gesetze sind Regeln ohne Ausnahme. [20]
2) Gesetze sind Aussagen, die mindestens allgemeine Beziehungen zwischen den Größen für die untersuchten bzw. betrachteten Objekte festhalten. Daraus folgt:
3) Gesetze gelten nur für diese betrachteten Objekte in ihrer Wechselwirkung, d.h. Gesetze sind immer an die Wirkungsbedingungen ihrer Objekte gebunden. [21] Verläßt man diesen Geltungsbereich, gelten andere Gesetze. Und schließlich gilt:
4) Gesetze machen keine Aussagen über einzelne Elemente oder individuelle Objekte, auf die dann eine Kraft einwirkt; die Bewegung ist untrennbar mit dem Teilchen verbunden, es ist seine Eigenschaft.
Schon Newton hatte den Standpunkt einer Trennung von Materie und Bewegung überwunden. Mit Newton wird Bewegung zum „Grundzustand“ der materiellen Körper, nicht die Ruhe. Damit ist nicht ein isoliertes einzelnes Teilchen das Elementare, sondern deren Wechselwirkung. Schon in Newtons Weltbild kann Einzelnes ohne Wechselwirkungen gar nicht existieren, er setzt eine „Wirkungsfähigkeit“ der Materie voraus. [22] Gravitation ist Wechselwirkung zwischen Massen. [23] Im Kraftbegriff wird diese sonderbare Beziehung auf den Begriff gebracht: Kraft ist keine äußere Einwirkung, sondern eine intrinsische Eigenschaft der Objekte selbst, so wie DNS- und RNS-Moleküle nicht „Träger“ von Information sind, sondern sie selbst stellen Information dar, auf molekularer Ebene.
Zum Punkt 4) könnte man anmerken, Einstein hätte seine eigene Vorstellung konsequenter zu Ende denken sollen, wenn man folgenden Satz liest, von dem man aber nicht weiß, ob er auf den polnischen, theoretischen Physiker Leopold Infeld (1898-1968) zurückgeht: „Der Quantenphysiker gibt sich nicht mit Gesetzen für einzelne Elementarteilchen ab und schreitet gleich zur Aufstellung der statistischen Gesetze, die für große Ansammlungen gelten.“ [24]
Es sei angemerkt, dass es nicht nur in der Quantenmechanik statistische Gesetze gibt, mithin nur Wahrscheinlichkeitsaussagen für Effekte, sondern die gesamte Thermodynamik besteht aus statistischen Gesetzen und manche Naturwissenschaftler nehmen an, dass man diese Idee, sozusagen retrospektiv, auf die klassische Physik überhaupt ausdehnen kann. Dafür spricht, dass die klassische Physik bzw. ihre mathematische Fassung von idealisierten Systemen ausgeht und nicht von der Realität und dass allein das Meßproblem beim Aufzeichnen von Daten in einer realen Experimentalumgebung eine statistische Herangehensweise erzwingt. Dies kann an dieser Stelle jedoch nicht weiter ausgeführt werden. Überdies kann man leicht zeigen, dass der objektive Zufall auch in der klassischen Physik schon eine wesentliche Rolle spielen kann, wie man u.a. an der Unmöglichkeit sehen kann, die Bahnen von mehreren Planeten für eine längere Periode exakt berechnen zu können (schon in der Schule lernt man, dass die Berechnung der gleichzeitigen Bewegung dreier Körper mathematisch nicht mehr exakt gelöst werden kann), oder daran, dass die Bewegungen von bestimmten experimentellen Pendeln wie dem Pohlschen Pendel und dem Magnetpendel derart zufällig sind, dass keine Voraussagen über ihre Bewegungsrichtung möglich sind.
Sogar das angeblich ‚starre’ Pendel einer Standuhr unterliegt in der Realität gewissen Schwankungen aufgrund der Außentemperatur, wodurch das Pendel im Sommer durch Ausdehnung des Metalls einer anderen Bahn folgt als im Winter, wo es sich wieder und sogar nicht-reproduzierbar zusammenzieht, so dass die Uhr allein dadurch sehr ungenau geht. [25]
Damit kommen wir zum Zufall zurück und seiner Rolle in Gesetzen sowie seiner Abgrenzung von Notwendigkeit und dem ‚Nichtzusammenhang’ mit dem Kausalitätsprinzip. Wenn Zufall nicht Beliebigkeit oder Willkür bedeutet und ebenfalls Gesetzmäßigkeiten unterliegt, und davon sollte ein Wissenschaftler ausgehen, dann hat die Einführung des objektiven Zufalls nicht das Kausalitätsprinzip außer Kraft gesetzt, sondern das Weltbild des mechanischen Determinismus zum Einsturz gebracht. Es konnte nicht mehr exakt vorhergesagt werden, was in einer experimentellen Versuchsanordnung passieren würde, sondern nur noch eine Wahrscheinlichkeit angegeben werden oder, anders ausgedrückt, es konnte nur noch ein Möglichkeitsfeld definiert werden, aber nicht mehr, welche Reaktion sich verwirklichen würde bzw. welchen Weg das Elementarteilchen und wann es diesen nehmen würde. „Die Quantenmechanik darf getrost als der Totengräber des deterministischen Weltbildes betrachtet werden…“, heißt es in der häufig zitierten Dissertation von Günther Koch. [26] Trotzdem hält Koch, Sozialwissenschaftler, an dem veralteten Konzept fest, dass der Zufall eine Kausalitätsverletzung darstellt, indem er „kausal von non-kausalen bzw. zufälligen Geschehnissen“ [27] abgrenzt sowie an den vollkommen unbefriedigenden und inhaltlich paradoxen Definitionen von „starker“ und „schwacher Kausalität“ festhält. [28]
„Schwache Kausalität“ soll heißen: „Gleiche Ursachen haben gleiche Folgen“; „starke Kausalität“ soll heißen: „Ähnliche Ursachen haben ähnliche Wirkungen.“ [29] Diese Definitionen werden zumeist von David Hume (1711-1776) [30] und James Clerk Maxwell (1831-1879) [31] hergeleitet, die jedoch beide die Rolle des objektiven Zufalls nicht anerkannten. Bei ‚deterministisch-chaotischen’ Prozessen, sowohl in der Realität als auch in der Theorie (Wetter, Wirtschaftskreisläufe, Verkehrsstaus, neuronale Netze, Herzrhythmus etc.), sehen wir dagegen, daß es offenbar noch eine dritte Möglichkeit gibt: „ähnliche Ursachen rufen ganz verschiedene Wirkungen hervor“, und man müßte sogar noch eine vierte anfügen: „Gleiche Ursachen rufen jedesmal andere Wirkungen hervor“, was nichts anderes bedeutet, als daß objektive Zufälle den Prozeß oder Verlauf einer Reaktion bestimmen und ‚nicht-reproduzierbar’ machen. Daraus wird nun wiederum geschlossen, daß in diesen Fällen die „starke Kausalität“ verletzt würde, nicht daß das Begriffssystem vielleicht unzureichend ist. Man will ja das vorgefaßte Schema nicht aufgeben. Aber erklärt wird auf diese Weise nichts. Dieser Hang zum Nominalismus, den Erscheinungen einen Namen zu geben und sich dabei in unauflösbare Widersprüche zu verwickeln, trägt nicht zur vertieften Erkenntnis bei.
Eine sinnvollere und konsistente Theorie würde den Zufall als eigenständige, besondere Ursache definieren und einbeziehen. [32] Dann würde augenblicklich der Widerspruch zwischen angeblich immer linear verlaufender Kausalkette und der Wirklichkeit, die ja Verzweigungen aufweist, verschwinden. Nur ist der objektive Zufall nicht weiter zu hinterfragen; er hat seine Ursache in sich selbst, wenn er auftritt und bekommt damit den Charakter eines Axioms, so wie das Kausalitätsprinzip.
Die Trennung des Kausalitätsprinzips, das gar nicht in Frage gestellt werden muß (und wahrscheinlich auch gar nicht kann), von der Frage des Determinismus wurde insbesondere nicht von den an der Entwicklung der Quantentheorie beteiligten Physikern beachtet. So lesen wir z.B. bei Heisenberg (1901-1976): „Die raum-zeitliche Beschreibung von Atomvorgängen ist komplementär zu ihrer kausalen oder deterministischen Beschreibung.“ [33] Wenn aber Heisenberg schon 1929 in einem Vortrag auf der Königsberger Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaft allerdings eine Revision des Kausalbegriffes forderte, so hat er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Determinismus gemeint, denn in den „Gesprächen im Umkreis der Atomphysik“ [34] ist im Kapitel über Kausalität ständig die Rede von „Vorhersehbarkeit“.
Für Einstein waren die Gesetze der Geometrie und das Kausalitätsprinzip schlicht und einfach „Erkenntnisse ‚a priori’“ [35], d.h. sie können weder aus Experimenten noch aus „sinnlich erfahrbaren Daten“ abgeleitet werden.
Das Einzige, was man jemandem und auch sich selbst zugute halten kann, ist, dass das menschliche Gehirn sich sehr sträubt, die Rolle des objektiven Zufalls anzuerkennen. So meinte der bekannte Neurophysiologe Wolfgang Singer, Direktor des MPI für Hirnforschung in Frankfurt/Main, in einem Interview: „Unsere Gehirne sind aufgrund evolutionärer Selektion darauf spezialisiert, in der Welt, die uns umgibt, Modelle zu erstellen, die es uns erlauben, Voraussagen zu formulieren über das, was geschehen wird, um erhalten, anpassen zu können. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben von Gehirnen. Tiere, die ein entwickeltes Nervensystem haben, existieren im Millimeter- bis Meterbereich. In dieser Dimension der dinglichen Welt gelten die Gesetze der klassischen Physik. Die Quantendynamik kommt dort nicht vor; die kosmologischen Prozesse sind auch völlig irrelevant. Also gilt das Kausalprinzip und die nicht Relativierbarkeit der Koordinaten von Raum und Zeit. Es gibt natürlich nicht-lineare Prozesse, aber weil man für nicht-lineare Systeme ohnehin keine langfristigen Voraussagen treffen kann, haben sich unsere kognitiven Systeme darauf spezialisiert, lineare Prozesse zu erfassen. Das heißt: Wir haben ein sehr begrenztes Vorverständnis für die Gesetzmäßigkeiten hoch nicht-linearer Systeme und deren Entwicklung.“ [36]
Jedoch zeigt auch diese Erklärung wieder, dass Singer von einem richtigen Verständnis des Kausalprinzips weit entfernt ist, wenn er dieses nur der klassischen Physik zuordnet und meint, es gelte in der Quantenmechanik und bei nicht-linearen Prozessen, die in der Chaosforschung beschrieben werden und weit entfernt vom thermodynamischen Gleichgewicht ablaufen [37], nicht.
Nehmen wir nun abschließend ein Beispiel heraus, das viele Physiker zu erwähnen belieben, um angebliche ‚Akausalität’ zu demonstrieren: den radioaktiven Zerfall eines Atoms. Beobachtet man den radioaktiven Zerfall von beispielsweise Plutonium-239, so weiß man nicht, welches von den Atomen des Plutoniumstaubes zuerst zerfällt. Daraus wird geschlossen, dass der kausale Zusammenhang ein probabilistischer ist, denn wir können nur eine Wahrscheinlichkeit angeben, mit der dieses oder jenes Atom in einem bestimmten Zeitintervall zerfällt. Diese Argumentation enthält jedoch eine Reihe von Fehlern: bei der Erläuterung des Gesetzesbegriffs haben wir gesehen, dass einzelne Elemente, hier das einzelne Atom, keiner exakten Gesetzmäßigkeit unterliegt, sondern nur das Kollektiv aller in der Probe enthaltenen Atome. Das Ganze ist deshalb mal wieder ein Gedankenexperiment. Das Gesetz des radioaktiven Zerfalls lautet, dass der Zerfall nach einer abnehmenden Exponentialfunktion erster Ordnung abläuft. Daraus lässt sich die Halbwertszeit berechnen, die angibt, nach welcher Zeit die Hälfte der Probe zerfallen ist, in unserem Beispiel von Pu-239 nach ca. 25.000 Jahren, nach abermals der gleichen Zeit, also insgesamt nach 50.000 Jahren, wird die Hälfte des Restes zu ¼ der Ausgangsmenge zerfallen sein, etc. Näherungsweise ist nach 5 Halbwertszeiten, also nach 125.000 Jahren, praktisch alles zerfallen. Ist diese Reaktion nun deswegen ‚akausal’ oder nur ‚statistisch-kausal’? Keineswegs, denn der Grund des Zerfalls, seine Ursache, ist die Instabilität des Atomkerns der Substanz Pu-239, eben seine Radioaktivität. Das reicht für eine kausale Betrachtung vollkommen aus. Die Nicht-Vorhersehbarkeit des Zeitpunktes des Zerfalls eines einzelnen Atoms und seiner ‚Flugrichtung’ ist eine Frage des Determinismus. Aus einem weiteren Grund wäre es auch gar nicht sinnvoll, nach einem einzelnen Atom und dessen Verhalten zu suchen, denn die Plutonium-Atome sind ununterscheidbar, sie sind nicht markiert, man könnte sie nicht individuell detektieren. Würde man sie markieren, wären sie nicht identisch. (Natürlich kann man kein Atom ‚markieren‘).
Drittens würde die Information darüber, welches Atom zuerst zerfällt, auch keinen Erkenntnisgewinn bringen, denn der Vorgang ist nicht reproduzierbar, er wird nie wieder so stattfinden, bei einem nächsten Versuch wird aller Wahrscheinlichkeit nach ein anderes Atom zuerst zerfallen als beim ersten Experiment, und es wird woanders hinfliegen.
Wir können aus diesem Beispiel schließen, dass bei einem einzelnen Atom der Zerfall bezüglich des Zeitpunktes zufällig stattfindet, jedoch mit Notwendigkeit innerhalb eines gewissen Zeitraums geschieht. Das Gesetz des radioaktiven Zerfalls wird jedoch nicht aus der Messung jedes einzelnen Atoms abgeleitet oder überprüft, sondern aus dem Verhalten des realen Kollektivs. Und es lassen sich Vorhersagen machen, die aus dem Gesetz abgeleitet werden können. Anderenfalls hätte die Menschheit keine Technik und keine Industrie entwickelt. Könnte man im Bereich der Quanten die Wirklichkeit nicht mehr erkennen, weil das Verhalten von Elementarteilchen angeblich ‚akausal’ ist, also unerklärlich, und die Heisenbergsche Unschärferelation dafür bemüht wird, dann hätte es auch, so makaber es leider ist, keine Atombombe gegeben.
Wir sehen, daß philosophierende Naturwissenschaftler immer noch nicht gelernt haben, wann sie die Schranke zur Philosophie überschritten haben: „Von der Physik eine Antwort auf philosophische Fragen zu erwarten, bedeutet, den Unterschied zwischen Physik und Philosophie zu vergessen. Wenn der Physiker antwortet, so antwortet er als Philosoph.
Die Dialektik ist die Methode der Philosophie, nicht aber die der theoretischen Physik. … A. Einstein hat mit seiner Analyse der Gleichzeitigkeit explizit gemacht, wie sich Physik und Philosophie aufeinander beziehen. Sofern der Physiker überkommene Grundbegriffe seiner Wissenschaft kritisiert, ist er an sich, d.h. der Möglichkeit nach, Philosoph.“ [38]
Und wenn heute zahllose – unbewußt – philosophierende Naturwissenschaftler nicht nur in popularwissenschaftlichen Werken, sondern auch in ihren Grundvorlesungen uns bzw. ihren Studenten immer noch erklären wollen, daß menschliche Naturerkenntnis nur durch „sinnliche Eindrücke“ zustande kommt, dann sind sie – wiederum philosophisch – nicht über den Standpunkt von Ernst Mach hinausgekommen, den schon Lenin gründlich und ausführlich in seinem philosophischen Hauptwerk kritisiert hatte. [39]
Ein sinnloses Unterfangen ist es auch, aus Einzelwissenschaften wie Physik, Biologie, Biochemie oder Neurophysiologie angebliche ‚Weltbilder’ oder ‚Welterkenntnisse’ abzuleiten. Das ist noch keinem Naturwissenschaftler, und sei es gelegentlich auch einmal ein Nobelpreisträger, gelungen, ohne sich in unauflösbare Widersprüche zu verstricken.
Es wäre demgegenüber an der Zeit, die Dialektik der Natur im Lichte der vergangenen 60 Jahre naturwissenschaftlicher Ergebnisse fort-, wenn nicht gar neu zu schreiben. [40]
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Anmerkungen
1 Hans Primas, Chemistry, Quantum Mechanics and Reductionism. Perspectives in Theoretical Chemistry, Berlin/ Heidelberg/New York 1981 (Lecture Notes in Chemistry Vol. 24). Vgl. auch den sehr anschaulichen Artikel des Essener Endokrinologen H. Schriefers, Glanz und Elend des Reduktionismus oder Die Analyse einer Stoffpuppe, MedWelt 34, S. 23-33 (1988), der immerhin ein Beispiel von Engels aus dem „Anti-Dühring“ bringt.
2 Albert Einstein, Über einen die Erzeugung und Verwandlung des Lichtes betreffenden heuristischen Gesichtspunkt, Annalen der Physik 17, 132-148 (1905). Die Idee der Quantelung selbst geht auf Max Planck zurück.
3 Z.B. Manfred Eigen/Ruthild Winkler, Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall, München 1975, S. 196f.
4 Werner Scherer, Tomographie pseudoverschränkter Quantenzustände zwischen Elektronen- und Kernspins, Dissertation Universität Stuttgart, Fakultät Mathematik und Physik, 2004
5 Siehe z.B. D. Jaksch, Quantenrechnen und Quantenoptik, Institut für Theoretische Physik, Innsbruck (http://heart-c704.uibk.ac.at/teaching/lehrer/th_qi_2002_dj.pdf; l.a. 2.05.2009).
6 Gernot Alber und Mathias Freyberger, Quantenkorrelationen und die Bellschen Ungleichungen. Von der Grundlagenforschung zur technologischen Anwendung, Physikalische Blätter 55, 23-27 (1999); Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Quantenoptik, München vom 29. Oktober 2003, Münchner Forscher bauen ersten Quantenabakus (http://www.mpq.mpg.de/mpq-news/2003/2003-10-29_pi.pdf; l.a. 2.05.2009)
7 Boris Nachkov Naydenov, Encapsulation of Endohedral Fullerenes for Quantum Computing, Dissertation im Fachbereich Physik, FU Berlin 2006, S. 99
8 Erwin Schrödinger, Die gegenwärtige Situation in der Quantenmechanik, Naturwissenschaften 23, S. 807-812, hier: S. 812; die Fortsetzungen finden sich auf S. 823-828 und S. 844-849 (1935) (s. v. v. steht für lateinisch sit venia verbo, etwa: „entschuldigen Sie den Ausdruck“).
9 Das folgende ist dem Gedankengang von Birgit Bomfleur entnommen: Schrödingers Katze kann aufatmen – und sei es auch nur ein letztes Mal (ScienceUp Sturm und Bomfleur GbR, 2002; www.ScienceUp.de). Vgl. auch E. Joos, H.D. Zeh, C. Kiefer, D. Giulini, J. Kupsch und I.-O. Stamatescu, Decoherence and the Appearance of a Classical World in Quantum Theory, Springer: Berlin 2003 (2. Aufl.).
10 Der Mathematiker Sheldon Goldstein führt überzeugend aus, dass auch ohne die angeblich unlösbare Konnexion des messenden Quantenphysikers bzw. seiner – makroskopischen – Meßapparatur mit dem zu messenden Objekt eine vollständige Quantenmechanik formuliert werden kann (S. Goldstein, Quantum Theory Without Observers [paper of 23 July 1997: http://www.math.rutgers.edu/~oldstein/papers/qts/qts.html], Physics Today März/April 1998)
11 Bomfleur, a.a.O.
12 Nach Murray Gell-Mann, Das Quark und der Jaguar. Vom Einfachen zum Komplexen – die Suche nach einer neuen Erkenntnis der Welt, Zürich 1994, S. 229
13 http://de.wikiquote.org/wiki/Albert_Einstein (Hervorhebung von mir)
14 http://www.einsteinjahr.de/page_2772.html
15 Albert Einstein, Hedwig und Max Born: Briefwechsel 1916-1955, kommentiert von Max Born, München 1969, S. 118
16 Nicht nur Engels, sondern auch Einstein und die meisten Physiker nach ihm gehen von einem materialistischen Standpunkt aus: „Der Glaube an eine vom wahrnehmenden Subjekt unabhängige Außenwelt liegt aller Naturwissenschaft zugrunde.“ (Albert Einstein, Maxwells Einfluß auf die Entwicklung der Auffassung des Physikalisch-Realen, in ders., Mein Weltbild, hrsg. von Carl Seelig, Zürich 2005, S. 207)
17 Vgl. dazu meine früheren Arbeiten: P.M. Kaiser, Zufall, Gesetz, Kausalität, in UNIVERSITAS 34, S. 419-422 (1979) sowie ders., Zu einigen kategorialen Problemen in der Physik, in Michael Ewers (Hrsg.) Wissenschaftstheorie und Naturwissenschaftsdidaktik, Bad Salzdetfurth/Hildesheim 1979, S. 97-108
18 Max Planck, Kausalgesetz und Willensfreiheit, Berlin 1923; Max Planck, Der Kausalbegriff in der Physik, Leipzig 1948, S. 23
19 Philipp Frank, Das Kausalgesetz und seine Grenzen, hrsg. von Anne J. Knox, Frankfurt am Main 1988. Frank (1884-1966), Prof. für Theoretische Physik, hatte 1906 bei Ludwig Boltzmann in Wien promoviert. Das Buch erschien erstmals 1932 als Band 6 der Serie Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung, die von Moritz Schlick und Philipp Frank herausgegeben wurde (a.a.O., S. 15)
20 Annette Schlemm, Physikalische Gesetze, Vortrag am 18./19.11.2000 auf dem Workshop „Wahrnehmung und Verfügung. Philosophie als Kritik der Naturwissenschaften“ im Forschungskolloquium der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Kulturforschung (IAG) Kassel. (http://www.thur.de/philo/physgesetz.htm)
21 Beispiel: „Sofern man irgendwelche Erscheinungen mit den Begriffen der Newtonschen Physik, nämlich Ort, Geschwindigkeit, Beschleunigung, Masse, Kraft usw. beschreiben kann, so gelten auch die Newtonschen Gesetze in aller Strenge, und daran wird sich auch in den nächsten hunderttausend Jahren nichts geändert haben“ (Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, München 1988, S. 117).
22 So Schlemm, a.a.O.
23 Es ist ein geradezu dialektisches Kunststück, dass bei der mathematischen Behandlung der Bewegung der Himmelskörper seit Newton punktförmige Massen, sogenannte Massenpunkte, angenommen werden. Die realen Objekte, z.B. die Planeten, haben also mathematisch keine Ausdehnung, sie sind eine totale Abstraktion, die mit der Wirklichkeit nicht im geringsten übereinstimmt, und nur dann kann man ihre Bewegungsgleichungen berechnen.
24 Albert Einstein/Leopold Infeld, Die Evolution der Physik. Von Newton bis zur Quantentheorie, Hamburg 1956, S. 186
25 Für diesen Hinweis danke ich Herrn Prof. Dr. Robert Pohl, Cornell University, Ithaca, New York
26 Günter Koch, Kausalität, Determinismus und Zufall in der wissenschaftlichen Naturbeschreibung, Berlin 1994, S. 180 (siehe auch meine Rezension auf diesen Webseiten)
27 A.a.O., S. 42
28 Koch, S. 163. In unzähligen Vorlesungen, Dissertationen und wissenschaftlichen Abhandlungen, die man im Internet finden kann, stößt man wieder und wieder auf diese inkonsistente, ja nachgerade falsche Begrifflichkeit. (Man gebe nur einmal die entsprechenden Begriffe in eine Suchmaschine ein!).
29 Vgl. Uli Deker und Harry Thomas, Die Chaos-Theorie, in Bild der Wissenschaft Heft 1, 1983
30 David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg 1973, S. 92
31 James Clerk Maxwell, Matter and Motion, New York o.J. (Reprint von 1877), S. 13
32 Bisher ist mir eine solche konsequente Zufallstheorie, die für die Naturwissenschaften und die Gesellschaftswissenschaften gleichermaßen gelten könnte, noch nicht untergekommen. Der Physiker Timerding hatte 1915 versucht, eine genetische Theorie des Zufalls zu entwickeln und erklärt: „Das Wesentliche an allen zufälligen Ereignissen ist eben das, daß sie allein aus der Regelmäßigkeit kausaler Verknüpfungen nicht zu erklären sind.“ (E. Timerding, Analyse des Zufalls, Braunschweig 1915, S. 162). Der Münchner Mathematiker Prof. Detlef Dürr setzt Zufall mit Wahrscheinlichkeit gleich und erklärt ihn anhand des Boltzmannschen Gleichgewichtssystems; „die Rolle des Zufalls in der Physik“ sei es, „Voraussagen auch für sehr komplexe Systeme [zu] machen, ohne daß wir detaillierte Teilchenbahnen berechnen müssen“ (D. Dürr, Über den Zufall in der Physik, Vortrag beim Leopoldina-Meeting in Halle am 6. Mai 1998 (http://www.mathematik.uni–muenchen.de/~duerr/Zufall/zufall.html); vgl. auch ders., Bohmsche Mechanik als Grundlage der Quantenmechanik, Springer: Berlin-Heidelberg-New York 2001). Allerdings sollen die zahlreichen Arbeiten marxistischer Philosophen und Naturwissenschaftler in den damaligen sozialistischen Ländern, einschließlich der DDR, hier nicht unerwähnt bleiben, deren ausführliche Behandlung jedoch eine eigene Darstellung verdiente. Auch in diesen Arbeiten ist die Annäherung an eine konsistente Zufallstheorie durchaus nicht einheitlich, ja zum größten Teil geradezu widersprüchlich. Es besteht offenbar ein großer Widerwillen darin, etwas Unerklärbares als Begriff einzuführen und zu definieren, obwohl die ganze Mathematik auf derartigen Voraussetzungen aufgebaut ist, nämlich auf Axiomen.
33 Werner Heisenberg, Die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie, in ders., Quantentheorie und Philosophie. Vorlesungen und Aufsätze, hrsg. von Jürgen Busche, RECLAMS UNIVERSAL BIBLIOTHEK, Stuttgart 2006, S. 42-61, hier: S. 49
34 Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, München 1973, insbesondere „10. Quantenmechanik und Kantsche Philosophie“, S. 141ff.
35 Einstein, Bertrand Russel und das philosophische Denken, in Einstein, Mein Weltbild, S. 42-49, hier: S. 46
36 Das Gehirn – determinierte Freiheit, Interview mit Wolfgang Singer, in ‚think on’, Konzernmagazin der ALTANA AG, Ausgabe 7, S. 15 (2006)
37 Vgl. z.B. Ilya Prigogine/Isabelle Stengers, Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens, München-Zürich 1980
38 Peter Ruben, Problem und Begriff der Naturdialektik, in Ders., Dialektik und Arbeit der Philosophie, Köln 1978, S. 146-187, hier S. 181
39 W.I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie, Werke, Band 14, Berlin 1946
40 Ein Kollektiv von Wissenschaftlern, die ehemals der Akademie der Wissenschaften der DDR angehört haben, hat dies in der Tat schon versucht und ein umfangreiches Werk von 417 Seiten im Internet veröffentlicht. Es existieren seit 1990 Druckfahnen dieses Buches (ca. 500 S., z.T. beschädigt), aber wg. der Wende wurde es nicht mehr gedruckt. Dass später für den Druck dann kein Verleger mehr gefunden werden konnte, ist ein weiteres Beispiel dafür, dass der ‚Kalte Krieg‘ keineswegs und noch lange nicht zu Ende ist. (Herbert Hörz und Ulrich Röseberg [Hrsg. und Leiter des Autorenkollektivs] Dialektik der Natur und der Naturerkenntnis, Verlag Max Stirner Archiv, edition unica Leipzig 2013; unter folgendem Link zu finden: http://www.max-stirner-archiv-leipzig.de/dokumente/Hoerz-Roeseberg-Dialektik.pdf).