Wir werden sicher das Denken einmal experimentell auf molekulare und chemische Bewegungen im Gehirn »reduzieren«; ist aber damit das Wesen des Denkens erschöpft?

(F. Engels 1878)[1]

Moderner Reduktionismus auf dem Vormarsch –

Über das schwierige Verhältnis von Naturwissenschaft und Philosophie: Gene und Gehirn auf weiter Flur

Peter M. Kaiser

Die Ansicht ist immer noch weit verbreitet, daß Naturwissenschaften „exakte Fächer“ sind und „exakte“ Forschungsfelder bearbeitet werden. Nicht-Naturwissenschaftler glauben auch, daß Naturwissenschaftler unbeeinflußt von Emotionen, philosophischen Standpunkten und Zeitgeist über bestimmte Probleme Auskunft geben können.

So denken wir (als Laien), wir würden von berufenen Naturwissenschaftlern regelmäßig aufgeklärt, und zwar nicht nur über die neuesten Ergebnisse der Naturwissenschaften, sondern auch über ihre philosophischen, wenn nicht gar weitreichenderen, gesellschaftlichen Konsequenzen. Schauen wir uns jedoch die popularwissenschaftlichen Werke der vergangenen Jahrzehnte genauer an, so kommen wir zu einem ganz anderen Ergebnis, auch wenn das eine oder andere Werk von Nobelpreisträgern geschrieben wurde.

Was ist nun in einigen Bereichen der Naturwissenschaften in den vergangenen Jahrzehnten geschehen? Dazu habe ich zwei Gebiete herausgesucht, die der Biologie und Neurophysiologie entstammen und in denen epochemachende Entdeckungen auffallen: 1) die Rolle der Gene, und 2) das Funktionieren des Gehirns. Unter 1 wurde der „genetische Code“ aufgeklärt und unter 2 wurden tiefe Einblicke in neuronale Prozesse möglich, jedoch bis heute nicht wirklich neue, seriöse Theorien über menschliches Verhalten formuliert.

1) Gene

Fast jeder Laie glaubt, dass unsere Gene alles steuern, sogar unser Verhalten. Wenn wir dann aber lesen, dass 98% der Gene von Schimpansen und sogar 5000 Gene der Seeanemone,[2] das sind fast 25 %, identisch mit denen der Menschen sind, dann kann irgendetwas nicht stimmen. Und so ist es auch. Nachdem das humane Genom 2003 aufgeklärt war und die FAZ einen winzigen Teil der Abfolge der – noch unvollständigen – 3 Milliarden Basenpaare der DNA abgedruckt hatte, glaubte man, jetzt könne man unmittelbar die ‚Krankheitsgene’ identifizieren und binnen kurzem wirksame Medikamente gegen alle möglichen Krebs- und/oder chronische Krankheiten entwickeln. Inzwischen ist es darüber merklich ruhiger geworden. Es stellte sich nämlich eine große Irritation der beteiligten Naturwissenschaftler ein, als man entdeckte, dass die Zahl der vermuteten Gene weitaus geringer war, als man erwartet hatte, nämlich ungefähr nur ca. 20.000 bis 23.000, was ungefähr soviel Gene wie bei der Maus sind.[3] Anfänglich glaubte man, die DNA müßte etwa 130.000 Gene beherbergen, um alle somatischen Strukturen und Krankheiten erklären zu können. Von den vermutlich 22.000 Genen sind inzwischen ungefähr 2000 identifiziert worden, deren Beschädigungen oder Fehlfunktionen definierte Krankheiten hervorrufen. Damit ist das menschliche Genom tatsächlich nicht viel anders als das eines Schimpansen organisiert. Eine Ahnung davon, was dann aber den Unterschied ausmacht, bekam man erst in den letzten Jahren: offensichtlich sind es gerade nicht-codierende Abschnitte in der DNA-Sequenz, die die essentiellen Unterschiede zwischen Mensch und Tier sowie auch den Tieren untereinander ausmachen. Diese sogenannten Introns machen über 95% der DNA aus. Weil man ihre Funktion noch nicht kannte, wurden sie von amerikanischen Forschern als „junk DNA“ bezeichnet, DNA-Müll, eine leichtsinnige Bezeichnung. Jetzt erkennt man immer mehr, daß die ganze epigenetische Steuerung, das An- und Abschalten der Gene, u.a. auch der krebserzeugenden (Onkogene), weitgehend über Introns geschieht. Nicht die reine Anzahl der Gene, sondern die überlappende Ablesung, das Herausschneiden und Wiedereinfügen von Gensequenzen etc. ist es, was die Unterschiede zwischen den Säugetieren und anderen Organismen ausmacht. So finden sich z.B. im Hefegenom nur sehr wenige Introns und bei Bakteriophagen gar keine (Bakteriophagen sind Viren, die nur Bakterien befallen, so dass sie zurzeit als Antibiotika entwickelt werden).

Dazu kam, dass das jahrzehntelang gelehrte ‚Dogma’ der Biochemie, der Informationsfluß laufe immer nach dem Schema DNA –> RNA –> Protein ab, total erschüttert wurde, entdeckte man doch, dass der Weg auch einen anderen Anfang nehmen kann, nämlich ausgehend von RNA –> DNA –> RNA –> Protein, wie bei bestimmten Viren. Auch die These „Ein Gen –> ein Protein“ stimmt nicht mehr. So gibt es, wie schon bemerkt, überlappende Gene, „springende Gene“ (Transposonen, die zuerst bei Pflanzen entdeckt wurden), bei denen Abschnitte herausgeschnitten und an einem anderen Ort der DNA-Kette wieder eingefügt werden. Dazu wurden erst vor wenigen Jahren völlig neuartige Regelungsmechanismen der Genaktivität entdeckt, die nicht durch Proteine, sondern durch (auto)katalytische Aktivität von Ribozymen und/oder durch kurze RNA-Moleküle von nur etwa 20 Bausteinen gesteuert werden. Zudem werden mi(cro)RNAs nicht von codierender DNA (Exons), sondern in der Tat von Intronstrukturen abgelesen. Hier ist ein Ansatzpunkt für neuartige Therapien in der Onkologie, da man glaubt, mit solchen miRNAs auch Krebsgene abschalten zu können. Erste tiermedizinische Versuche bei Mäusen haben allerdings derart schwere Nebenwirkungen zur Folge gehabt, dass die Hälfte der Versuchstiere starb.[4] Die interferierende RNA war mit inaktivierten Viren als Träger injiziert worden. Offenbar ist noch nicht klar, was dabei noch alles beeinflußt oder abgeschaltet wird. In Kürze wird es aber eine Anzahl neuartiger Medikamente auf dieser Wirkbasis geben.

Kurz zusammengefasst, ist die Genforschung gründlich durcheinander geschüttelt worden, und dieser Prozeß ist noch nicht am Ende angelangt. Der mit den epigenetischen Prozessen ausgestattete Zellzyklus, das Epigenom, ist derart komplex, daß er zurzeit gar nicht graphisch abgebildet, geschweige denn in irgendeiner Weise mathematisch modelliert werden kann. Und weil das so ist, mutet es umso befremdlicher an, welche weitreichenden Schlüsse schon jetzt für die Genetik im Hinblick auf die Evolution und die Ontogenese von Lebewesen gezogen werden.

Vor allem ist die Zelldifferenzierung in der individuellen Entwicklung der Lebewesen noch lange nicht voll verstanden; es ist jener geheimnisvolle Mechanismus, der aus Stammzellen die unterschiedlich differenzierten Zellen von Knochen, Organen, Haaren, Drüsen, schließlich das Zentralnervensystem mit dem Gehirn entstehen lässt.

Aus diesem Grunde sind denn auch hier die meisten Ansätze für biologischen Reduktionismus (Biologismus) zu finden. Mal wird ‚der Mensch’ auf das Gehirn, mal auf die Gene oder sogar nur auf seine DNA reduziert; alles, sein Verhalten, privat und gesellschaftlich, wird dann mit Hilfe einer der reduktionistischen Theorien versucht zu erklären, und alle Erklärungen müssen dann konsequenterweise scheitern.  So ist z.B. die Vorstellung des „selbstsüchtigen Gens“, das rücksichtslos danach strebt, sich selbst zu vermehren, eine bis heute einflussreiche Idee, um das Verhalten von Lebewesen und gleich noch die gesamte Evolution zu erklären.[5] Die Gene werden dabei als evolutionäres Subjekt vorgeschlagen, nicht die Art; sie streben mit aller Kraft danach, sich zu vervielfältigen, egal, in welcher „Hülle“ sie sich befinden. Doch allein schon die hier erwähnten Steuerungsmechanismen (Epigenom) müßten diese Idee als absurd erscheinen lassen. Davon lassen sich anscheinend aber philosophierende Physiker wie David Deutsch nicht beeindrucken.[6] Deutsch kommt dabei vollkommen ohne Philosophie aus: „Ich habe eine einheitliche Weltsicht vertreten, die auf den vier Strängen (oder Theorien) der Quantenphysik des Multiversums, Poppers Erkenntnistheorie, der Evolutionstheorie von Darwin und Dawkins und einer stärkeren Fassung von Turings Theorie der universellen Berechnungen beruht. Diese Sichtweise scheint mir beim heutigen Stand unserer wissenschaftlichen Erkenntnis die ‚natürliche’ zu sein.“[7] Nebenbei gesagt, demonstriert der deutsche Titel des Buches eine vollkommen unsinnige Logik: Wie kann eine Welterkenntnis physikalisch sein? Der Titel müßte heißen „Die Welterkenntnis der Physik“, denn davon handelt das Buch. Der Originaltitel trifft’s besser und läßt gleichzeitig tief blicken: „Fabric of Reality“.

2) Gehirn

Sind es nicht die Gene, die unser Verhalten steuern, so erklären uns einige der gegenwärtigen Hirnforscher, dass unser Gehirn uns steuert, ganz deterministisch und unabhängig vom Ich, so, als sei es eine andere Instanz. Ist aber nicht die Struktur des Gehirns wenigstens ‚angeboren’?

Bei höher entwickelten Säugetieren kann man durch eine einfache Überschlagsrechnung zeigen, dass die direkte genetische Determiniertheit allein der biologischen Gehirnstruktur ausgeschlossen ist: wenn man einmal anhand der Zahl der Hirnzellen, von denen es ungefähr 100 Milliarden gibt, und deren neuronalen Verzweigungen (jedes Neuron mit jeweils hundert bis zu zehntausend anderen) berechnet, was dies für einen Informationsgehalt bedeuten würde, so kommt man auf eine alle kosmischen Dimensionen übersteigende Zahl; sie kann auch mit den schnellsten Rechnern nicht berechnet werden. Daraus kann man unmittelbar schließen, dass die realisierte, ontogenetisch entstandene Struktur gar nicht genetisch determiniert sein kann. Anatomen wissen andererseits auch schon lange, dass die Vernetzung der Neuronen einem Selbstorganisationsprozeß unterliegt und in entscheidenden Teilen sich erst bis zu drei Jahren nach der Geburt vollzieht. Bekanntlich wird dieser, noch lange Jahre weitergehende Prozeß „Sozialisation“ genannt, was für sich spricht.

Wenn soziale Konflikte der Menschen aber nicht im Gehirn angelegt sind, woher kommen sie dann? Wieso kann die herkömmliche Psychologie hier auch nicht weiter helfen? Die Psychologie, so wie sie bis jetzt weithin noch betrieben wird, berücksichtigt nicht den „dynamischen Widerspruch“ (Michael Otte), der bei der Herausbildung der Persönlichkeit eines Individuums darin besteht, dass es zugleich ‚asozial’, also einfach individuell geprägt und mit angeborenen Verhaltensweisen determiniert, und auf der anderen Seite offenbar schon weit vor der Geburt beginnend, auch sozial determiniert ist. Das Individuum wird „in seiner Dynamik vom sozialen Umfeld stimuliert … Jeder Mensch ist Naturwesen und gesellschaftliches Wesen zugleich.“[8]

Bis heute streitet man sich von berufener und unberufener Seite, ob eher das ‚Milieu’ oder das ‚genetische Erbe’ (also in letzter Konsequenz doch wieder die DNA) die Persönlichkeit eines Menschen bestimmen. Meiner Meinung nach ist diese Frage vollkommen falsch gestellt, weil sich beides gar nicht auseinander halten läßt: beide Dynamiken entwickeln sich untrennbar miteinander verbunden zur mehr oder weniger ausgereiften Persönlichkeit. „Das Bemühen, die Persönlichkeit, ein historisch-gesellschaftliches Gebilde, in einer biologisch begründeten Theorie wiederzugeben, gehört selbst zu den Verirrungen, deren relativ unangefochtene Fortdauer schon zur Genüge zeigen müßte, daß die Psychologie noch ganz und gar nicht zur Reife gelangt ist …“, schrieb Sève 1976.[9] Sie ist heute noch nicht viel weiter, und auch die Versuche, den gesellschaftlichen Bedingungen und Gegebenheiten in einer ‚Sozialpsychologie’ Rechnung zu tragen, erklären die konkrete Einmaligkeit der Individuen nur noch mit Zufall. Sie stellen einen unzureichenden und die Wechselwirkung nicht berücksichtigenden Ansatz dar, denn wenn man „… die gesellschaftliche Welt des Menschen, die gesellschaftlichen Verhältnisse als äußere Wachstumsfaktorenals Milieu … – eines demnach als natürlich vorherbestehend gefaßten Individuums betrachtet, läßt man offenkundig werden, dass man nicht begriffen hat, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht äußere Wachstumsfaktoren, sondern das Wesen der Persönlichkeit sind.“[10]

Ebenfalls 1976 konnte Hoimar von Ditfurth mit der aberwitzigen Vorstellung verblüffen, die Kriege der Menschen ließen sich aus dem Konflikt zwischen den phylogenetisch alten, ‚fossilen’ Teilen des menschlichen Gehirns, dem limbischen System, mit dem neueren Teil, dem Vorderlappen, dem Großhirn, mit dem das bewusste Denken vollzogen wird, erklären.[11] Die Soziobiologie ging dann wieder einen Schritt weiter, ohne sich aber von einer biologistischen Vorstellung deutlich zu lösen. Während Ditfurth die gesellschaftlichen Konflikte allein aus dem Gehirn eines Individuums entstehen sah, die sich dann aggressiv nach außen wenden sollten, versuchte die Soziobiologie, die auch im Tierreich schon vielfältig anzutreffenden Sozialstrukturen in eine biologische Theorie des Sozialverhaltens zu integrieren. Dabei kaprizierte man sich – mehr oder weniger unbewußt – immer noch auf das abstrakte Individuum, das mit anderen Individuen zwar kommunizieren kann, aber letztlich doch nur auf sich selbst bezogen und in seiner Rolle verhaftet bleibt. Die Soziobiologie hebt auf die Gleichheit zwischen Mensch und Tier ab und nicht auf den qualitativen Unterschied. Das Besondere der menschlichen, gesellschaftlichen Tätigkeit blieb und bleibt dabei auf der Strecke.

Gerade in diesen Zeiten erlebt die Soziobiologie eine zweite Welle der Propagierung, eine Art Auferstehung. Man braucht nur aufmerksam in eine große Tageszeitung zu schauen, hinter der sich angeblich nur kluge Köpfe verbergen, dann konnte man dort einen „Grundkurs in Soziobiologie“ belegen, der Anfang 2007 mit der 18. Folge abgeschlossen war und dessen sämtliche Teile im Internet nachzulesen sind.[12] Das passt ganz ausgezeichnet zur neueren Hirnforschung, als deren Repräsentanten Wolfgang Singer, der Leiter des Frankfurter Max-Planck-Instituts für Hirnforschung und Gerhard Roth, Direktor des Instituts für Hirnforschung an der Universität Bremen[13] und Direktor des Hanse-Wissenschaftskollegs in Delmenhorst, gelten können. Deren Thesen handeln ja ebenfalls weitgehend von einem durch rationale Überlegungen und gesellschaftliche Prozesse, in die jeder Mensch eingebunden ist, unbeeinflussbaren, ja deterministischen Dezisionismus, demzufolge ‚der Mensch’ nur den ‚Entscheidungen’ folgt und folgen kann, die sein Gehirn jeweils schon bis zu einer halben Sekunde vorher für ihn getroffen hatte.[14] Da wird jetzt sogar das Gehirn von seinem Träger, dem konkreten Menschen, losgelöst und verselbständigt, und gleichzeitig wird behauptet, hier würde die neurophysiologische Forschung jetzt fortfahren, wo Sigmund Freud einst nicht weiterkam, und die Probleme der Psychologie der Persönlichkeit würden so nebenbei auch noch gelöst werden.[15]

Die scheinbare Erweiterung der alten, individualistischen Ideologien ins Soziale wie in der Soziobiologie, hergeleitet vom „Ameisenstaat“, dem Forschungsobjekt Edgar O. Wilsons,[16] steht so im Widerspruch zur neueren Hirnforschung, die sich offenbar wieder ins individuelle Gehirn zurückbegibt und dort die Gründe für menschliches Verhalten sucht.[17] Dort wird sie aber nichts finden, denn auch das ontogenetisch manifestierte, konkrete Gehirn eines Individuums hat sich im sozialen Kontext erst herausgebildet, ist so und so ‚geworden’, es haben sich während dieser Entwicklung in den erwähnten epigenetischen Prozessen sogar neue „somatische Gene“ gebildet, die nicht auf der DNA im vererbten Chromosomensatz vorhanden waren.[18] Das soziale Handeln der Menschen sollte durch „eine biologische Betrachtungsweise menschlichen Verhaltens“ ersetzt werden, so der Klappentext von Wilsons zweitem Buch.[19] Der Wissenschaftsjournalist Helmut Mayer konstatierte anlässlich einer Buchrezension dagegen ganz prägnant: „Vor allem aber spricht nichts dafür …, im Gehirn ‚Ursachen’ für Gedanken zu suchen. Gedanken haben viele Ursachen, aber das Gehirn zählt nicht dazu.“[20]

Selbst oder gerade im Falle künstlerischer Kreativität, welche man durchaus mit der Kreativität und ingeniösen Einfällen bei der Entwicklung neuer wissenschaftlicher Theorien vergleichen kann, ist das Gehirn nicht allein auf weiter Flur und produziert Kunst aus dem Urgrund des individuellen Gehirns, ohne jede Anregung von außen.

Interessant ist, daß nach Erscheinen von Wilsons Standardwerk in den USA – wen wundert’s – ganz pragmatisch die Soziobiologie als neue psychiatrische Methode operationalisiert wurde: „Ethologic Psychiatry“.[21]

Die Hirnforschung ist aber ein Gebiet der Biologie, sie kann das ‚menschliche Wesen’ nicht erklären, das gerade kein biologisches ist und auch kein vereinzeltes. „Die Produktion des vereinzelten Einzelnen außerhalb der Gesellschaft – eine Rarität, die einem durch in die Wildnis verschlagenen Zivilisten wohl vorkommen kann, der in sich dynamisch schon die Gesellschaftskräfte besitzt – ist ein ebensolches Unding als Sprachentwicklung ohne zusammen lebende und sprechende Individuen. Es ist sich dabei nicht länger aufzuhalten.“[22]

Die fatale Kaprizierung von Verhaltensforschern wie Hacker, Lorenz, seinem Schüler Irenäus Eibl-Eibesfeldt, dem Affenforscher Desmond Morris, dem erwähnten Ameisenforscher Wilson u.v.a. auf das Individuum mit seinen angeblich angeborenen Verhaltensweisen sowie das Bestreben, solche Verhaltensweisen dann auch in der Natur gewissermaßen zu ‚entdecken’, führt nur dazu, das Augenmerk auf immer wieder gleiche oder ähnliche Verhaltensweisen bei Mensch und Tier zu fokussieren anstatt auf die wesentlich interessanteren, aber ungleich schwieriger zu bestimmenden differentia specifica.[23]

Bei dem erwähnten Neurobiologen Gerhard Roth ist nun ein Reduktionismus über mehrere Ebenen von Wissenschaftsgebieten festzustellen. In einem Interview reduzierte er die Biologie der Hirnforschung, selbst schon ein Produkt des biologischen Reduktionismus, der Reduktion ‚des Menschen’ auf die biologische Funktion seines Gehirns, noch einen Schritt weiter, nämlich auf Physik. Auf das Statement des Interviewers „Leben an sich läßt sich ja zumindest bisher nicht mit einfachen physikalischen Formeln erklären“ antwortet Roth: „Sicher. Eine Zelle ist etwas, was von der Physik und von der Chemie her eher exotisch ist. So etwas wie eine Zelle kommt sonst in der Natur nicht vor. Trotzdem gehöre ich zu den Leuten, die Geist und Bewusstsein letztendlich als physikalische Zustände verstehen. Das heißt, mit den Mitteln der Physik beschreibbare und verstehbare Zustände. Nichts desto weniger sind sie exotisch. Wir brauchen dazu eine Physik, die es noch nicht gibt, die aber ganz offensichtlich nicht die derzeitigen Naturgesetze sprengt.“[24] Spricht diese Aussage schon für sich, so ist bemerkenswert, wie sich die Ebenen der Naturbetrachtung seit der Entwicklung der Quantentheorie verschoben haben und bei Roth nochmals brechen: nicht „die Zelle“ ist ‚normal’ bzw. ein ‚normales’ Naturprodukt, das in der Evolution hervorgebracht wurde, sondern offenbar nur Physik und Chemie, die Zelle aber ‚exotisch’ und offenbar auch kein Gegenstand mehr für die Biologie. Für Quantenphysiker war und ist der Kosmos ein exotisches Gebilde, das wohl, ist er doch kaum mit unserer ‚normalen’ Anschauung zu verstehen; und die Elementarteilchen sind es ebenfalls, wenn Physiker angesichts der heute bekannten, jedoch meist nur extrem kurzlebigen Partikel, liebevoll vom „Elementarteilchenzoo“ sprechen. Jedoch sind auch die chemischen Objekte für unsere Anschauung der „dinglichen Welt“ (Singer) nicht allzu anschaulich und kommen in der Natur ebenfalls meist nicht vor, sondern sind im wahrsten Sinn des Wortes ‚Kunststoffe’. Auch eine Atombombe kommt in der Natur nicht vor und spaltbares Uran muß erst mühsam angereichert werden. Also sind eher diese Bereiche als exotisch zu bezeichnen als eine Zelle, die von der Biologie/Biochemie sehr wohl gut verstanden wird und keinesfalls als exotisch angesehen wird.

Zusammenfassend kann man feststellen: es ist nicht möglich, aus einer Einzelwissenschaft allein so komplexe Strukturen und Bewegungen wie menschliches Denken und Handeln, gesellschaftliche Arbeit und politische Organisation herzuleiten, aus einer Naturwissenschaft schon gar nicht. Physiker wie Heisenberg wußten das und waren gegenüber Grenzübertritten eher vorsichtig: „ … ist es an dieser Stelle wichtig, sich daran zu erinnern, daß wir uns in der Naturwissenschaft nicht für das Universum als Ganzes, das uns selbst einschließt, interessieren, sondern daß wir unsere Aufmerksamkeit auf gewisse Teile des Universums richten und zum Gegenstand unseres Studiums machen. In der Atomphysik ist dieser Teil gewöhnlich ein sehr kleiner Gegenstand, nämlich ein atomares Teilchen oder eine Gruppe solcher Teilchen, manchmal ist er auch größer; auf die Größe kommt es hier nicht an. Wohl aber ist es wichtig, daß ein großer Teil des Universums, der uns selbst einschließt, nicht mit zum ‚Gegenstand’ gehört.“[25]

Aber auch Soziobiologie, Soziologie oder Psychologie allein reichen nicht aus, ein „Weltbild“ zu entwerfen. Das ist nicht ihr Gegenstand. Dazu bedarf es echter interdisziplinärer Zusammenarbeit und weiterentwickelter Philosophie.

Wenn Biologen Kriege für unvermeidlich halten, weil ‚Aggression’ angeboren sei, wenn eifrige Journalisten jede vermeintliche Sensation, häufig nur eines Einzelexperiments, aufgreifen und verbreiten, wenn Physiker ernsthaft über Teleportation nachdenken oder uns nahelegen wollen, wir könnten in Gestalt einer uns repräsentierenden, durch’s Weltall taumelnden Software unsterblich werden,[26] dann sollten wir uns davon nicht irritieren lassen. Und wenn Biochemiker mit Nobelpreis wie Jaques Monod (1910-1976)[27] sich dazu hergeben, die Ergebnisse ihres eigenen Forschungszweiges zurechtzubiegen und zu verfälschen, nur um im Kalten Krieg den dialektischen Materialismus widerlegen zu wollen, dann vertieft dies nicht unsere Erkenntnis der Welt und läßt darüber hinaus jeglichen Respekt gegenüber den Wundern der Natur vermissen.


[1] Friedrich Engels, Dialektik der Natur, S. 385. Digitale Bibliothek Band 11: Marx/Engels, S. 8704 (vgl. MEW Bd. 20, Berlin 1973, S. 513)

[2] Barbara Hobom, Seeanemone steht dem Menschen nahe, FAZ vom 11. Juli 2007. Originalarbeit: Nicholas H. Putnam, Mansi Srivastava, Uffe Hellsten, Bill Dirks, Jarrod Chapman, Asaf Salamov, Astrid Terry, Harris Shapiro, Erika Lindquist, Vladimir V. Kapitonov, Jerzy Jurka, Grigory Genikhovich, Igor V. Grigoriev, Susan M. Lucas, Robert E. Steele, John R. Finnerty, Ulrich Technau, Mark Q. Martindale und Daniel S. Rokhsar, Sea Anemone Genome Reveals Ancestral Eumetazoan Gene Repertoire and Genomic Organization, Science 317, 86-94 (2007).

[3] Dies sind die neuesten Angaben des Humangenomprojekts, womit die reine Anzahl vergleichbar mit der des Fadenwurms ist.

[4] Sascha Karberg, Noch eine tödliche Therapie, in ZEIT online vom 24.05.2006. Offenbar laufen inzwischen aber schon ophthalmologische und dermatologische Versuche an Menschen, wobei aber nicht Virenvektoren verwendet werden, um die RNA-Moleküle in die Zelle zu bringen, sondern Methoden wie „Lipoinfektion“ und „Elektroporation“; bei Patienten mit Makula-Degeneration, die ‚altersblind’ werden, können die Präparate direkt ins Auge injiziert werden (redaktioneller Beitrag: RNA Interferenz: Therapieansatz mit enormem Potential, in medizin.de vom 20.02.2007).

[5] Richard Dawkins, The Selfish Gene, Oxford University Press 1976/2007 (30th Anniversary Edition); deutsch: Das egoistische Gen, Springer: Heidelberg 1978; Spektrum Akademischer Verlag: Heidelberg 2006.

[6] David Deutsch, Die Physik der Welterkenntnis, dtv: München 2000 (2. Auflage 2002)

[7] Ibid., S. 348

[8] Michael Otte, Das Formale, das Soziale und das Subjektive. Eine Einführung in die Philosophie und Didaktik der Mathematik, Frankfurt am Main 1994, S. 301

[9] Lucien Sève, Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, Frankfurt am Main 1976 (2. Auflage), S. 218, 241

[10] Ibid., S. 159

[11] Hoimar von Ditfurth, Der Geist fiel nicht vom Himmel, Hamburg 1976, letztes Kapitel.

[12] Eckart Voland, „Lernfähig, aber nicht belehrbar. Über die Aufgabe des Gehirns: Ein Grundkurs in Soziobiologie“, 18. Folge, FAZ vom 31. Januar 2007; der gesamte Kurs ist nachzulesen unter wwww.faz.net/soziobiologie. Der FAZ muß man aber zugute halten, dass sie über Jahre hinweg immer wieder Beiträge veröffentlichte, die heftigste Kritik aus unterschiedlichsten Disziplinen an den Thesen von Singer und Roth übten. Von diesen Beiträgen sei hier nur der von Martin Stingelin, Literaturwissenschaftler an der Universität Basel, aus dem Jahr 2004 hervorgehoben, in dem er sich mit der kurzen und sarkastischen Schrift von Dürrenmatt „Das Hirn“ beschäftigt. Diese ist jedoch in Wahrheit ein Traktat über Auschwitz (in Friedrich Dürrenmatt, Turmbau. Stoffe IV-IX, Zürich 1998, S. 233-263).

[13] Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konse-quenzen, Frankfurt am Main 1994/20008; ders., Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt am Main 2003; ders., Das Gehirn und seine Freiheit, Göttingen 2006.

[14] Wolfgang Singer, Keiner kann anders als er ist: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu reden, FAZ vom 8.1.2004, erneut abgedruckt als Verschaltungen legen uns fest. Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen, in Christian Geyer (Hrsg.) Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt am Main 2004, S. 30-65.

[15] So dezidiert Gerhard Roth, z.B. in seinem Vortrag „Wie das Gehirn die Seele macht“ während der 51. Lindauer Psychotherapiewochen April 2001 (www.Lptw.de). Eine fundierte Kritik an den Thesen Roths über den ‚freien Willen’ aus der Sicht eines Arztes hat der erfahrene Augsburger Psychiater Ingo-Wolf Kittel geschrieben („Determiniert zu hirnigen Konstruktionen.“ Stellungnahme zu dem Bericht von Gerhard Roth „Das Problem der Willensfreiheit – Die empirischen Befunde.“ In: Information Philosophie 5/2004, S. 14-21; vgl. auch Helmut Mayer, Ach, das Gehirn. Über einige neue Beiträge zu neurowissenschaftlichen Merkwürdigkeiten, in Neue Rundschau 114/4 [2003]; diese Beiträge können aus dem Internet heruntergeladen werden). Prinzipielle Kritik an der Interpretation der Versuche von Benjamin Libet aus den 1980er Jahren über das neuronale Aktivitätspotential und seinen Deutungen übt u.a. Daniel C. Dennett, Freedom evolves, London 2003. Als Beispiele für innerfachliche Kritik mag dies hier genügen. Die Diskussion hält an.

[16] Vgl. sein Standardwerk: Sociobiology. The New Synthesis, New York 1975; vgl. auch E.O. Wilson, Biologie als Schicksal. Die soziobiologischen Grundlagen menschlichen Verhaltens, Frankfurt am Main-Berlin-Wien 1978.

[17] Die meisten Hirnforscher sehen als Beginn dieser Entwicklung John C. Eccles mit der 3-Weltenhypothese an (Das Gehirn des Menschen, München-Zürich 1976; Original: The Understanding of the Brain, New York 1973), die ursprünglich Sir Karl Raimund Popper entwickelt hatte (vgl. K.R. Popper/J.C. Eccles, Das Ich und sein Gehirn, München 1977).

[18] Solche entstehen nicht nur im Zentralnervensystem (ZNS), sondern auch bei der Ausformung des Immunsystems nach der Geburt; vgl. dazu z.B. Erhard Geißler, Genetik und das Wesen des Menschen, in Vom Gen zum Verhalten. Der Mensch als biopsychosoziale Einheit, hrsg. von Erhard Geißler und Herbert Hörz, Berlin 1988, S. 309-321.

[19] Wilson, Biologie als Schicksal, Rückseite des Buchumschlags.

[20] Helmut Mayer, Am Gehirn sollt ihr sie erkennen, FAZ vom 17. September 2007, S. 37.

[21] Vgl. beispielhaft Michael T. McGuire/Lynn A. Fairbanks (Hrsg.) Ethological Psychiatry. Psychopathology in the context of evolutionary biology, New York-San Francisco-London 1977, darin vor allem den Artikel von Glenn E. Weisfeld, A Sociobiological Basis for Psychiatry, S. 111-125.

[22] Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie [Rohentwurf] 1857-1858, Moskau 1939, Nachdruck: EVA Frankfurt/M., o.J., S. 6

[23] Dass der Mensch ein Teil der Natur ist, ist vergleichsweise trivial und bedarf keines großen Aufwandes an Erkenntnis; so schrieb schon Marx: „Daß das physische und geistige Leben des Menschen mit der Natur zusammenhängt, hat keinen anderen Sinn, als daß die Natur mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch ist ein Teil der Natur.“ (Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in Marx-Engels-Werke [MEW] Ergänzungsband, Erster Teil, S. 516).

[24] „Es könnte sein, daß wir völlig blind sind“ Der Gehirnforscher Prof. Gerhard Roth zu Intelligenz, Bewußtsein und der Physik des Geistes, Volker Lange, MorgenWelt 02-99 (www.morgenwelt.de)

[25] Werner Heisenberg, Die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie, in: ders., Quantentheorie und Philosophie, RECLAM: Stuttgart 1979/2006, S. 42-61, hier: S. 53 (Hervorhebung von mir).

[26] Frank J. Tipler, Die Physik der Unsterblichkeit. Moderne Kosmologie, Gott und die Auferstehung der Toten, Piper: München-Zürich 1994; F.J. Tipler, Die Physik des Christentums. Ein naturwissenschaftliches Experiment, Piper: München-Zürich 2008.

[27] Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie, München-Zürich 1972. Der Nobelpreisträger von 1965 für Medizin, zusammen mit François Jacob und André Lwoff, geht in dem Wahn, die Dialektik unbedingt widerlegen zu müssen, so weit, reihenweise naturwissenschaftliche Ergebnisse verzerrt darzustellen (vgl. Peter M. Kaiser, Monods Versuch einer Widerlegung der materialistischen Dialektik, in DAS ARGUMENT Heft 88/1974, S. 827-844). Insofern ist dieses Buch eine der fragwürdigsten, popularwissenschaftlichen Darstellungen überhaupt.

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